Keine 15 km von hier, auf halber Strecke von meinem Heimatort Saarlouis nach Saarbrücken, steht die Völklinger Hütte. Das Bild der rauchenden Schlote gehört zu den prägenden Erinnerungen meiner Kindheit. Ein großer Teil meiner Familie arbeitete in der Stahlindustrie– zumindest der Teil, der nicht im Bergbau arbeitete – typisch Saarländer eben. Bei uns zuhause war die große StahlkriseThema am Küchentisch. Die Massendemonstrationen Mitte der 1980er Jahre habe ich unmittelbar verfolgen können. In Völklingen bin ich zur Schule gegangen.Saarstahl produziert dort noch heute. Die berühmte Völklinger Hütte jedoch schloss noch bevor ich mit dem Abitur fertig war.
Heute finden auf dem Gelände Konzerte und Aufführungen statt. Die Anlage ist ein Industriedenkmal, im Rang eines Weltkulturerbes. Die Völklinger Hütte, die zu meiner Geburt noch 17.000 Mitarbeiter hatte, kann nun museal besichtigt werden. Hier ist Stahl Vergangenheit.
Aber taugt das als Metapher für die Stahlindustrie in Deutschland? Sie ahnen es: Meine Frage ist eine rhetorische. Der Abgesang auf den Stahl aus Deutschland wurde in den letzten Jahren und Jahrzehnten bereits häufig gesungen. Jedes Mal verfrüht.
Ja, eine veränderte Wirtschaftslandschaft und modernere Produktionsverfahrenhaben dazu geführt, dass
heutzutage weniger Menschen in derStahlindustrie arbeiten. Aber an jedem deutschen Stahlarbeitsplatzhängen
sechs weitere Arbeitsplätze! Rund 3,5 bis vier Millionen Beschäftigte arbeiten in denstahlintensiven Branchen
– das sind zwei von drei Arbeitsplätzen im verarbeitenden Gewerbe.
Stahl liefert heute mit modernen Produkten die Grundlagen für den Automobilbau, den Maschinenbau, die Investitionsgüterindustrie – oder auch für moderne Windkraftanlagen, die auf moderne Stahlsortenangewiesen sind. Stahl ist eine der tragenden Säulen unserer Industrie. Stahl ist Gegenwart. Und Stahl ist Zukunft. Dafür müssen wir allerdings etwas tun. Ausruhen kann man sich nämlich nicht auf dem, was wir im Moment haben. Denn natürlich ist dieGlobalisierung, ist auch der digitale Wandel eine enorme Herausforderung für die heimischeStahlindustrie.
Stahl ist ein Bereich unser Wirtschaft, in dem wir wie unter einem Brennglas die aktuellen Entwicklungen der globalen Handelspolitik erkennen können. Wir sehen staatlich subventionierte Überkapazitäten, die uns, aber auch die EU als Ganzes im Übrigen, aber genauso auch die USA hart treffen.
Wir sehen China, das allein heute so viel Stahl wie der Rest der Welt zusammen produziert und dabei zunehmend einenfairen Wettbewerb verhindert. Das nennen wir aggressiven Staatskapitalismus. Und wir sehen die Reaktionen jener, die eine Antwort auf diese Herausforderungen in immer mehr Protektionismus suchen. Die dadurch die multi laterale Ordnung und den freien Handel aufs Spiel setzen, von dem gerade wir in Deutschland so sehr profitieren.
Das sind neue Realitäten, mit denen wir umgehen, auf die wir auch reagieren müssen. Wir werden nicht für
alles auf Anhieb eine Lösung finden, schon gar nicht alleine. Aber schon eines kann man jetzt sagen: Der Weg
der Abschottung, den einige zu gehen beginnen, der kann definitiv keine Lösung sein!
Hier im Saarland wissen wir das auch ganz gut. Es gab Zeiten, in denen das Saarland durch Zollschranken von der jungen Bundesrepublik abgetrennt war. Viele Waren aus der Bundesrepublik wurden durch Zölle unerschwinglich. Das führte dazu, dass der Schwarzmarkt in diesem Land blühte. Hier zeigte sich im Kleinen, wie Zölle undHandelshemmnisse am Ende allen schaden.
Dies gilt auch, um es klar zu sagen, für die aktuellen US-Strafzölle gegen Stahlimporte. Sie sind ein ungerechtfertigter Angriff auf den freien Handel. Und wenn ich mir anschaue, dass sie auch noch begründet werden mit dem „Schutz der nationalen Sicherheit“, was im Übrigen eine ziemlich verdrehte Logik gegenüber Freunden und Alliierten ist, dannschwanteinem Böses. Letztlich steckt dahinter natürlich der Versuch, heimischen Unternehmen auf Kosten europäischer Anbieter Wettbewerbsvorteile zu verschaffen. Um nichts anderes geht es.
Die größten Leidtragenden der Zölle werden aber am Ende die US-Verbraucherinnen und Verbraucher sowie auf
Zulieferungen angewiesene Unternehmen in den Vereinigten Staaten selber sein. Möglichweise nicht kurzfristig,
aber ganz sicher mittel- und langfristig.
In der EU haben wir deshalb geschlossen mit Gegen- und Schutzmaßnahmen reagiert. Und ich sageIhnen auch ganz
ehrlich: Dass ich selber irgendwann mal dastehe und eine Erklärung abgebe, die da lautet: „Wir haben auf das Verhalten der Vereinigten Staaten in Europa mit den entsprechenden Gegenmaßnahmen reagiert“, das hätte ich mir vor zwei Jahren noch nicht vorstellen können. Dass der amerikanische Präsident in einer Erklärung verlautbart, die Gegner der Vereinigten Staaten sindRussland, China und Europa, genauso wenig. Aber das sind die Realitäten, mit denen wir es anscheinend heute zu tun haben. Und deshalb, bei all den Schwierigkeiten, die es gibt, ist eine große Voraussetzung, um die Herausforderungen zu schultern, dass wir innerhalb der EU zusammenstehen. Aber gleichzeitig stehen wir auch weiter im Austausch mit den Vertretern der US- Regierung. Wir machen klar, dass ihre Zölle den eigenen Interessen widersprechen und fordern die Kollegen dort auch auf,
ihre protektionistischenMaßnahmen zurückzunehmen. Wir werden auch keine Verhandlungen führen mit der Pistole auf der Brust.
Ich bin vor zwei Wochen in den Vereinigten Staaten gewesen und da haben wir auch über ein weiteres Thema gesprochen, das nach wie vor in der Luft hängt. Das sind nämlich die angedrohten Strafzölle auf Autos. Und dabei weiß jeder, dass es im Wesentlichen um deutsche Autos geht. Und ich habe meinen Gesprächspartnern in Washington noch einmal deutlich gemacht, dass deutsche Autos alles andere sind als eine Bedrohung der
nationalen Sicherheit der Vereinigten Staaten. Ganz im Gegenteil, deutsche Autos machen Straßen in Amerika sicherer. Es hat noch nicht ganz gewirkt, zugegebenermaßen. Aber es zeigt in etwa die Absurdität der Frage, mit der wir uns auseinandersetzen müssen, dass auf Produkte, die bei uns hergestellt werden mit der Begründung der Bedrohung der nationalen Sicherheit der Vereinigten Staaten, Strafzölle erhoben werden. Und das ist ganz sicherlich nicht der wahre Grund um den es geht. Und deshalb sind wir davon überzeugt: Die richtige Antwort auf die Überproduktion bei Stahl liegt nicht in nationalen Alleingängen, sondern im Gegenteil: in einem Mehr an Multilateralismus und internationaler Kooperation.
Das durch Deutschland initiierte internationale Stahlforum der G20 steht ganz beispielhaft dafür. Hier sitzen sowohl die USA als auch China mit an einem Tisch. Gemeinsam arbeiten wir nach wie vor auch an einem Kompromiss zum Abbau der Überkapazitäten. Ein großer Schritt nach vorn war auch die Berliner Erklärung des Stahlforums, die im letzten Jahr unter deutscher G20 Präsidentschaft erreicht wurde. In ihr haben sich die beteiligten
Länder zumindest zu einer engeren Zusammenarbeit verpflichtet.
Dass dies nicht nur wohlfeile Versprechungen waren, hat sich erst vor wenigen Wochen beim Ministertreffen des Forums in Paris gezeigt. Trotz der aktuellen Handelsspannungen konnte der Konsens zur Reduzierung der Überkapazitäten erhalten bleiben. In solchen multilateralenForen, in solch internationalen Formaten, die die unterschiedlichen Akteure und Interessen zusammenbringen, liegt nach wie vor der Schlüssel zur Bewältigung der komplexen aktuellen Herausforderungen im Handelsbereich. Nur hier erreichen wir dauerhafte Fortschritte auch, und ich kenne die Ungeduld, auch wenn das manchmal mühsam ist und lange dauert.
Zu den Erfolgen gehört auch, dass die Überkapazitäten zur Stahlproduktion weltweit nach hohen Aufwüchsen in den letzten beiden Jahren zumindest einmal wieder gesunken sind. Das ist nicht genug. Gegenüber meinem chinesischen Kollegen habe ich auch mittlerweile mehrfach klargestellt, dass die bisherigen Anpassungen von gerade einmal 1,3 Prozent im letzten Jahr bei weitem nicht ausreichen. China muss eindeutig mehr tun. Darin
sind wir uns – und darin liegt auch eine Chance – mit den USA, in der EU, aber auch mit anderen Ländern wie Japan einig und ziehen auch weiterhin an einem Strang.
Die Stahlindustrieist für Deutschland ein Gradmesser. Herausforderungen, die uns hier ereilen, sind oftmals Vorzeichen für unsere Wirtschaft ganz im Allgemeinen. Wir sind eine der offensten und am engsten vernetzten Volkswirtschaften der Welt. Dass die regelbasierte Weltwirtschaftsordnung immer stärker in Frage gestellt wird, trifft uns deshalb ganz besonders hart. Mehr als andere und früher als andere. Fast jeder vierte Arbeitsplatz
in Deutschland hängt vom Export ab. Auch deshalb ist es unser Kernanliegen, dass wir diese regelbasierteOrdnung verteidigen und weiterentwickeln.
Wir tun dies auch im Zusammenspiel mit unseren Partnern, die unsere Interessen und Werte teilen und die für ein multilaterales Handeln einstehen wollen. Das sind mehr Länder und Akteure, als es manchmal scheint. Das zeigen auch viele Gespräche mit Kolleginnen und Kollegen auf der ganzen Welt – von Japan bis Kanada –, die großes Interesse an dem gezeigt haben, was wir einmal beschrieben haben als „Allianz für den Multilateralismus
„. Dass Verträge gelten, dass in der internationalen Politik Vertrauen und Verlässlichkeit weiter vorhanden sind. Ein Zusammenschluss derjenigen, die an verbindlichen Regeln festhalten wollen, dass man sich aufeinander verlassen kann in der Welt. Das ist heute mehr denn je ganz besonders nötig. Die bereit sind, ihr politisches Kapital für mehr internationale Zusammenarbeit einzusetzen – gerade auch in der internationalen Wirtschafts- und Handelspolitik, die werden heute mehr gebraucht denn je und die müssen sich besser organisieren, als das in der Vergangenheit der Fall gewesen ist, als man dachte, es sind alles Selbstverständlichkeiten, die internationalen Verträge, die wir irgendwann einmal geschlossen haben. Die die Welthandelsordnung nicht nur bewahren, sondern auch weiterentwickeln wollen, zum Beispiel wenn es um die Rolle von Staatsunternehmen geht oder um Fragen der Digitalisierung und der Plattformökonomie. Auch das spielt alles in die Industriepolitik
immer mehr hinein.
Das sind alles hohe Ziele und für den einen oder anderen mögen sie weit weg erscheinen. Das ist aber nicht so. Wir sollten alles tun, um dem gerecht zu werden, was sich uns an Fragen dort stellt. Denn wenn die globaleHandelsordnung als solche infrage gestellt wird, dann trifft uns das nicht nur wirtschaftlich. Es trifft uns auch politisch, weil Wohlstand und soziale Gerechtigkeit mehr und mehr in Frage gestellt werden. Das berührt nichts anderes als die Grundlagen unseres Zusammenlebens – in Deutschland, aber auch in Europa insgesamt.
Angesichts der Fliehkräfte, die derzeit auf Europa wirken – der Brexit ist hierfür nur der sichtbarste Ausdruck –, brauchen wir in derWirtschaftspolitik ein geeintes Europa. Und die Antwort auf Amerika first, auf China first oder auf Russia first, die kann eigentlich nur Europe United sein. Es gibt in Europa kein einziges
Land, das groß genug ist, in diesen Konflikten sich auf seine eigenen Handlungsmöglichkeiten zu verlassen. Paul-Henri Spaak, ein früherer belgischer Ministerpräsident, einer der Gründungsväter der EU, hat einmal gesagt:
„In Europa gibt es zwei Arten von Ländern: Kleine Länder und Länder, die noch nicht wissen, wie klein sie sind.“ Das gilt auch für Deutschland. Auch wir sind darauf angewiesen, dass wir die Antworten auf die Fragen, sei es die, die uns aus Washington gestellt werden oder die, die uns aus Peking gestellt werden, als
europäische Antworten geben. Wir sind ein Binnenmarkt mit 400 Millionen Verbraucherinnen und Verbrauchern. Und wir haben nur dort die notwendige Durchsetzungsfähigkeit, wenn es darum geht, unsere Interessen auch international umzusetzen.
Und deshalb hat nur ein starkes und souveränes Europa als globale Wirtschaftsmacht die Chance, nicht nur Protektionisten, sondern auch den Populisten – denn wenn man genau hinschaut, wird man feststellen, dass das vielfach die gleiche Gruppe ist – wirklich etwas entgegenzusetzen. Deshalb gehen wir zum Beispiel bei der Fortentwicklung der Eurozone, aber auch bei der Gestaltung der digitalen Zukunft gemeinsam mit Frankreich
voran in Europa. Auch deshalb ist es auch sinnvoll, mit dem französischen Präsidenten über Vorschläge zu reden, die er mit Blick auf dieStahlindustrie gemacht hat, the border tax adjustment, wo es darum geht, dass diejenigen, die Stahl nach Europa importieren, aber keinen Klimaschutz betreiben, dort, wo sie produzieren, eineAusgleichsabgabe zahlen müssen. Denn die Klimapolitik, die wir machen, die soll doch das Klima schützen und nicht dieWettbewerbsbedingungen derer, für die Klimaschutz nur ein Fremdwort ist.
Auch innerhalb der Welthandelsorganisation WTO treten wir als Europäer geschlossen auf und das ist gut so. Wir treiben Vorschläge voran zu mehr Transparenz und setzen uns für eine Reform des Streitschlichtungsmechanismus ein, um den Welthandel besser vorStaatskapitalismus und unilateralen Maßnahmen zu schützen. Und an der Stelle haben die USA auch nicht unrecht. Die WTOist eine Organisation, die gemacht ist auf der Grundlage von Marktwirtschaft. Dass es dort Player gibt wie China, die keine Marktwirtschaft in dem Sinne sind, sondern
staatskapitalistische Einheiten, wird in der WTO nicht ausreichend berücksichtigt. Und deshalb ist es richtig, an Reformüberlegungen gerade an dieser Stelle gemeinsam mit den Amerikanern und mit den Japanern als EU zu arbeiten.
Es sind nicht aber nicht nur die staatlich subventionierte Überproduktionen, nicht nur die Angriffe gegen den freien Handel, die dieStahlindustrie vor Herausforderungen stellen. Auch die fortschreitende Digitalisierung und der Klimawandel verdeutlichen, dass wir uns nicht auf den Erfolgen der Vergangenheit ausruhen können. Wer auf diese Entwicklungen eine Antwort findet, der hat auch eine Perspektive und diese
darf eben nicht nur eine einseitige Belastung der einen bedeuten, die sich umweltpolitisch und klimapolitisch hehre Ziele setzen, sondern es muss ein ausgeglichener Mechanismus sein, der nicht in erster Linie Wettbewerbsverzerrungen verursacht an Stellen, wo wir sie eigentlich nicht wollen.
Ich finde, an vielen Stellen bewegen wir uns in die richtige Richtung. Manchmal fehlt die Geschwindigkeit. So sind die hochmodernen Werkstoffe der Stahlindustrie beispielsweise Grundlage effizienterer und umweltfreundlicherer Produkte. Umweltschutz und Stahl stehen sich nicht immer unversöhnbar gegenüber. Eine Offshore-Windenergieanlage beispielsweise besteht durchschnittlich zu 82 Prozent aus Stahl. Zudem profitiert
die Ökobilanz von Stahl auch von seiner sehr hohen Recyclingfähigkeit. Es gibt keinen Grund unter Umweltgesichtspunkten, dass sich Stahl verstecken muss.
Die Welt ist im Wandel an allen Stellen. Das gibt uns, in der Industrie wie in der Politik, aber auch die Chance, diesen Wandel zu begleiten, ihn mitzugestalten. Und auch wenn man manchmal den Eindruck hat, das gar nicht mehr sagen zu dürfen: Ich bin optimistisch und zuversichtlich. Nach einer neuen Analyse des
Weltwirtschaftsforums ist kein Land der Welt so innovationsfähig wie Deutschland!
Gradmesser dabei waren die Zahl der angemeldeten Patente, die wissenschaftlichen Veröffentlichungen, die Zufriedenheit der Kunden mit deutschen Produkten und vieles mehr. Das alles verdanken wir Unternehmen in Deutschland und ihrer Innovationskraft, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die das möglich machen. Und deshalb ist und bleibtDeutschlands wichtigster Wettbewerbsvorteil die Unternehmen, die wir haben, die Mitbestimmung und all das, was damit zusammenhängt. Und bei all den Problemen, die sich stellen, wenn ich mir anschaue, wie Deutschland bewertet wird international, insbesondere in puncto Innovationsfähigkeit, macht das Hoffnung.
Das macht Hoffnung, auch für die Stahlindustrie und auch für den Stahlstandort Deutschland: Stahl gehört nicht ins Museum, Stahl ist Zukunft.